Donnerstag, 23. Februar 2012

Offener Brief von Mikis Theodorakis

Der heute (fast) 87-jährige griechische Komponist, Schriftsteller und Politiker Mikis Theodorakis spricht in einem offenen Brief an die internationale öffentliche Meinung von einer Verschwörung griechischer und ausländischer Akteure gegen das griechische Volk und der drohenden Gefahr, dass Griechenland durch Arbeitslosigkeit, Hunger und Verelendung in den kommenden Jahren endgültig ausgelöscht wird.

Das nachstehend ungekürzt in deutscher Übersetzung wiedergegebene Schreiben wurde am Dienstag (14. Februar 2012) publiziert, jedoch von Mikis Theodorakis bereits am Sonntag (12. Februar 2012) aufgesetzt, bevor er zusammen mit dem als Widerstandkämpfer gegen die deutsche Besatzung bekannt gewordenen heute 89-jährigen Politiker und Schriftsteller Manolis Glezos anlässlich des im Eilverfahren debattierten Gesetzentwurfs zur Ratifizierung des neuen Kreditabkommens und der damit einhergehenden drakonischen Sparmaßnahmen das Parlamentsgebäude aufsuchen wollte, wobei jedoch beide dem ungezügelten Einsatz von Chemikalien durch die Polizei zum Opfer fielen.  

An die Internationale Öffentliche Meinung – Die Wahrheit über Griechenland

Es gibt eine internationale Verschwörung mit dem Ziel der Vollendung der Zerstörung meines Landes. Sie begannen 1975 mit Ziel die neugriechische Kultur, sie fuhren mit der Perversion unserer neueren Geschichte und unserer nationalen Identität fort und versuchen jetzt, uns mit Arbeitslosigkeit, Hunger und Verelendung auch biologisch auszulöschen. Wenn sich das griechische Volk nicht vereint erhebt um sie zu aufzuhalten, ist die Gefahr der Auslöschung Griechenlands existent. Ich siedele sie in den nächsten zehn Jahren an. Von uns wird nur das Andenken an unsere Zivilisation und unsere Kämpfe für die Freiheit verbleiben.

Montag, 13. Februar 2012

Aufruf von Mikis Theodorakis und Manolis Glezos

Mit ihrem Aufruf rütteln Manolis Glezos, jener legendäre Antifaschist, der einst die Nazi-Fahne von der Akropolis holte, und Mikis Theodorakis, der über alle Kontinente Musikmachende, die europäische Öffentlichkeit wach!

Gemeinsamer Appell für die Rettung der Völker Europas!

... 65 Jahre nach dem Sieg über Nazismus und Faschismus stehen die europäischen Völker heute einer dramatischen Bedrohung gegenüber, dieses Mal nicht militärischer, sondern finanzieller, sozialer und politischer Art.

Ein neues »Imperium des Geldes« hat in den letzten 18 Monaten systematisch ein europäisches Land nach dem anderen angegriffen, ohne substantiellen Widerstand zu erfahren. Den europäischen Regierungen misslingt es nicht nur, die europäischen Völker gegen die Märkte zu verteidigen, stattdessen versuchen sie, die Märkte »zu beruhigen«, in dem sie Politiken einführen, die uns an die Art und Weise erinnern, wie Regierungen versucht haben, dem Nazismus in den 30ern zu begegnen. Sie organisieren »Schuldenkriege« zwischen den Völkern Europas, genauso wie damals, als sie von der belle époque bis zum Ersten Weltkrieg getrieben wurden.

Die Marktoffensive begann einen Krieg gegen Griechenland, einen EU-Mitgliedsstaat, dessen Bevölkerung eine entscheidende Rolle im Widerstand gegen Barbarei und in der Befreiung Europas im Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Zu Anfang war dieser Krieg ein Kommunikationskrieg, der uns an die Kampagnen gegen feindliche, ausgestoßene Länder, wie Irak und Jugoslawien, erinnerte. Diese Kampagne präsentierte Griechenland als ein Land fauler und korrupter Bürgerinnen und Bürger, während sie versucht, die »PIIGS« Europas und nicht die internationalen Banken für die Schuldenkrise verantwortlich zu machen. Schnell entwickelte sich diese Offensive in eine finanzielle, die die Unterwerfung Griechenlands unter einen Status der eingeschränkten Souveränität und die Einmischung des IWF in die internen Angelegenheiten der Eurozone verursachte.
 
Nachdem sie bekommen hatten, was sie von Griechenland wollten, zielten die Märkte auf die anderen kleineren oder größeren Länder in der europäischen Peripherie. Das Ziel ist in allen Fällen ein und dasselbe: Die umfassende Gewährleistung der Interessen der Banken gegenüber den Staaten, die Zerstörung des europäischen Wohlfahrtstaates, der ein Grundpfeiler der europäischen Demokratie und Kultur gewesen ist, die Zerstörung der europäischen Staaten und die Unterwerfung der übrigen staatlichen Strukturen unter die neue »Internationale des Geldes«.

Die EU, die ihren Völkern als ein Instrument des kollektiven Fortschritts und der Demokratie präsentiert wurde, tendiert dazu, das Instrument für die Beendigung von Wohlstand und Demokratie zu werden. Sie wurde als ein Instrument des Widerstandes gegen die Globalisierung eingeführt, aber die Märkte wünschen sie sich als ein Instrument dieser Globalisierung.

Sie wurde dem deutschen und anderen europäischen Völkern als ein Instrument der friedvollen Mehrung ihrer Macht und ihres Wohlstandes vorgestellt, aber die Art und Weise, wie alle Völker den Finanzmärkten als Opfer vorgesetzt werden, zerstört das Bild von Europa und verwandelt die Märkte in Akteure eines neuen Finanztotalitarismus, in die neuen Bosse Europas.

Wir stehen momentan der Gefahr gegenüber, das Finanzäquivalent des Ersten und Zweiten Weltkriegs auf unserem Kontinent zu wiederholen und in Chaos und Zersetzung aufzugehen, zugunsten eines internationalen Imperiums des Geldes und der Waffen, in dessen ökonomischem Epizentrum die Macht der Märkte liegt. Die Völker Europas und der Welt stehen einer historisch noch nie dagewesenen Konzentration von finanzieller, aber auch politischer und medialer Macht durch das internationale Finanzkapital, d.i. einer Handvoll von Finanzinstituten, Ratingagenturen und einer von ihnen gekauften politischen und medialen Klasse, mit mehr Zentren außerhalb als innerhalb Europas, gegenüber. Das sind die Märkte, die heute ein europäisches Land nach dem anderen angreifen, in dem sie den Hebel der Verschuldung nutzen, um die europäischen Wohlfahrtstaaten und die europäische Demokratie zu zerstören.

Das »Imperium des Geldes« fordert nun eine schnelle, gewaltsame und brutale Transformation eines Eurozonenlandes, Griechenlands, in ein Drittweltland durch ein sogenanntes »Rettungs«-Programm, welches tatsächlich die »Rettung« der Banken ist, die dem Land Geld geliehen haben. In Griechenland hat die Allianz der Banken und der politischen Führungen – durch die EU, die EZB und den IWF – ein Programm verhängt, dass einem »wirtschaftlichen und sozialen Mord« an diesem Land und seiner Demokratie gleichkommt, und organisiert die Ausplünderung des Landes vor dessen kalkuliertem Bankrott, mit dem Wunsch, das Land zum Sündenbock der globalen Finanzkrise zu machen und es als ein »Paradigma« zur Terrorisierung aller europäischen Völker zu nutzen.

Donnerstag, 9. Februar 2012

Machtnetze

Vor einem Jahr wurde der folgenlose Brief der „Elder Statesmen“ (nicht wenige von ihnen Frauen) abgeschickt. Er blieb nicht nur komplett außerhalb des öffentlichen/politischen Bewußtseins (bzw. wurde dort gehalten), sondern auch die Sache, um die es ging – Israel zur Einhaltung einiger völkerrechtlicher Regeln zu zwingen – wurde und wird unverändert medienweit zum antisemitischen Sündenfall erklärt.
Interessant, was da vor Aller Augen geschieht.

Bürgerliche Politiker, die in ihrer aktiven Zeit mit ihrer „Politik-Sprack“ den Bürger genauso verdummten, wie es bürgerliche Politiker immer und überall tun, sind zu vernünftigen Positionen fähig. Und Politiker der (ehemals) ersten Reihe sind anscheinend ebenso machtlos, wie du und ich, sobald sie nicht mehr im aktiven Dienst stehen.

Politiker handhaben die Macht. Sie wird ihnen befristet übertragen, man könnte auch sagen, geborgt. Selbst mächtig sind sie nicht. Kann Macht überhaupt in Jemandes Besitz sein bzw. personifiziert sich Macht? Zweifellos. Die Eigentümer der großen Kapitalmassen sind in der Tat mächtig. Und die Eigentümer der größten Kapitalzusammenballungen sind die Mächtigen der letzten Instanz. Wer sollte ihnen befehlen? Höchstens der Eine. Sie handeln in Gottes Auftrag. Sie wissen die Dienste ihrer Brzezinski, Kissinger, Cheney usw. usw. zu schätzen, Köpfe, die Analysen und Konzepte vorlegen, brutal und trickreich sind, „das Momentum“ zu nutzen wissen. Aber sie selbst bleiben die Dienstherren.

Sie entscheiden über Millionen- und Milliardenbeträge von Kapital und bestimmen damit über die täglichen Lebensbedingungen der Menschen. Darüber hinaus können sie sich beliebige persönliche Leistungen direkt kaufen. Diejenigen von ihnen jedoch, die  über zwei-, drei-, selbst vierstellige Milliardenbeträge entscheiden, setzen die Steine im größten Spiel. Diese entscheiden nicht nur über Millionen von Menschen, sondern über das Schicksal von Völkern. Sie können nicht anders als imperial. Gott hat es so gewollt.

Das geschieht privat, unöffentlich, in einer für sich seienden Szene. Letzteres nicht so sehr, dank ausgeklügelter Geheimhaltungsstufen, sondern, weil es einfach keine Ebene der Gemeinsamkeit gibt zwischen Göttern und niederen Kreaturen. Aktive Politiker (Medienhuren, Generale, natürlich Professoren, Bürgerrechtler) strampeln (wohlbestellt) gemäß den Ratschlüssen dieser Szene. Im Übrigen sind sie zweitrangig; gern gesehen oder außen vor, wie es paßt.

Dort, wo sich die Macht zentriert (Krysmanski hat das skizziert) hält sich keine starre Struktur. Ihre Elemente sind höchst lebendig, sprunghaft. Die Macht oszilliert. Zwar reagiert sie auf die Ergebnisse des Kapitals (das bekanntlich sowohl gesellschaftliches Verhältnis als auch Prozeß ist – damit erscheint sie plötzlich als abhängig, und es tun sich arge Grenzen ihrer Gotthaftigkeit auf) aber sie ist auch souverän, verkörpert einen Überschuss, bricht ins Uneroberte auf. (In ihrer Virulenz, Schwerfassbarkeit,

Manifestationsfähigkeit, Auslösepotenz mag sie mit dem menschlichen Gehirn vergleichbar sein.) Das Ganze bildet ein Netz, durchaus mit einer Knotenstruktur, das sich aber zugleich beständig neu knüpft und umknüpft, ständig auf dem Weg in die Breite und Tiefe ist, wie das Wurzelwerk eines Baums, um sich die Schätze der Erde anzueignen, dabei auch fähig, Hindernissen auszuweichen, Beschädigungen einzugrenzen, unbrauchbar gewordene Teile des Netzes totzulegen.

Gesellschaftliche Kräfte, die die Größe und Willkür der heutigen Kapitalmacht für lebensgefährlich halten und meinen, dass gesellschaftliche Bewusstheit Not tut, müssen das heutige Machtnetz in seiner Tiefe und seinen Details begreifen, um es zerstören zu können. Und sie müssen seine gesell-schaftlichen Reproduktionskomponenten in vollem Umfang ersetzen. Zu Zeiten der ersten proletarischen Revolutionen – 1870 und 1917 – waren die Revolutionäre der zeitgenössischen Macht mehr als nur auf die Spur gekommen. Sie konnten sie kippen! Das notwendige gesellschaftliche Netz der materiellen Bewusstheit zu knüpfen, gelang ihnen nicht, obwohl Lenins Genie sich der Lösung dieser Aufgabe stellte.

Heute hat die Kapitalmacht viele neue Hürden gegen die Bestrebungen der Revolutionäre errichtet. Die Macht ist schwerer denn je (und höchst flexibel!) befestigt. Aber die Fähigkeiten der Menschen sich in ihrer Leben-swirklichkeit in sozialen Netzen zu bewegen und diese zu gestalten, sind enorm gewachsen.

Quelle: Opablog

Jammern der Milliardäre? Sie haben offensichtlich Angst!

Beobachter registrieren »Gefühl der Angst« in Davos. Beim 42. Weltwirtschaftsforum sorgen sich globale Oligarchen um ihre und die Zukunft des Systems

Am Mittwoch begann das 42. Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF), bei dem alljährlich die selbsternannte globale Elite im Schweizer Nobelkurort Davos zusammenkommt. Diesmal stand das mehrtägige Treffen unter dem Motto: »Die große Transformation – neue Modelle gestalten«. Im Grunde ging es allerdings darum, eine Sprachregelung zu finden, wie der Kapitalismus angesichts seines totalen Versagens neu legitimiert und über die Krise gerettet werden kann. Unterpunkt dabei: Wie kann der drohende Zusammenbruch des Lieblingsprojektes des neoliberalen Kapitals, des Euro, verhindert werden.

Deshalb übten sich die Protagonisten zunächst in Kritik: Nach vier Jahren tiefer Krise haben scheinbar auch die »Macher« der globalen Wirtschaft gemerkt, daß etwas nicht mehr stimmt. Allen anfänglichen Prognosen zum Trotz können die Probleme nicht überwunden werden. Alle traditionellen »Heilmittel« von der medialen Gesundbeterei über staatliche Gelddruckorgien bis zur Hals-über Kopf-Verschuldung kommender Generation haben nicht nur kläglich versagt, sondern die Probleme verschlimmert.

In Davos wurden Klagen laut, die in diesen Kreisen sonst nie zu hören waren: Über die die Umwelt vernichtende Wirkung unkontrollierter Märkte, über den selbstzerstörerischen Kapitalismus, der auf Kosten der Südhalbkugel und künftiger Generationen auch in den entwickelten Ländern nur noch die Reichen reicher macht, während der Lebensstandard der Massen sinkt. Rhetorisch stand gar die Frage im Raum, wie lange diese Form des Kapitalismus noch ungestraft weiter wirtschaften kann, bevor es in den betroffenen Gesellschaften zu radikalen Veränderungen zum Nachteil der jetzigen Eliten kommt.

2500 Teilnehmer waren in die Graubündener Pseudoidylle gekommen, darunter 40 Staats- und Regierungschefs wie Angela Merkel und der Brite David Cameron. Aber auch Dons der internationalen Finanzmafia wie George Soros oder diverse Spitzenbanker und -Broker beehrten das WEF. Soros beispielsweise dürfte die schlimmsten Befürchtungen der anwesenden Oligarchen und Top-Kapitalfunktionäre mit seiner Prognose nur noch bestärkt haben. Die Welt befinde sich in einer der gefährlichsten Zeiten der modernen Geschichte, einer Periode des »Bösen«. Europa stünde der Abstieg in Chaos und Konflikte bevor, so der Mann, der als Milliardenspekulant einst das britische Pfund in die Knie zwang. Und für die USA prognostizierte Soros schwere Unruhen auf den Straßen, die zu einem brutalen Durchgreifen der Sicherheitskräfte und zu drastischen Einschnitten in die bürgerlichen Freiheiten führen würden. Das globale Wirtschaftssystem, so wie wir es kennen, könnte seiner Meinung nach sogar völlig zusammenbrechen.

Der Kommentator einer britischen Nachrichtenagentur berichtete von einem unterschwelligen »Gefühl der Angst« in Davos. Allerdings habe niemand außer Soros die Probleme, die »jeder hier fürchtet«, mit solch »brutaler Offenheit« angesprochen. Dennoch sei das der Hindergrund für »groteske Entwicklungen wie das Gejammer von Milliardären über die globale Last der Ungleichheit« – eine Anspielung auf den US-Multimilliardär Warren Buffet, der aus Sorgen um die zukünftige politische Stabilität der USA seine Mit-Milliardäre aufgefordert hatte, endlich mehr Steuern zu zahlen.

Zum Auftakt wurde in Davos ein Bericht über die Risiken für die Welt im Jahr 2012 vorgestellt. Titel: »Die Saat der Dystopie«. Eine dystopische Gesellschaft ist laut Wikipedia »eine diktatorische Regierungsform bzw. eine Form repressiver sozialer Kontrolle«. In dem Bericht wurde festgestellt, daß viele Indikatoren für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Gesundheit in die falsche Richtung zeigen. Auch in den Diskussionen wurde anerkannt, daß tiefgreifende Reformen des Kapitalismus dringen nötig seien, um eine dystopische Entwicklung zu verhindern – z.B. mit Reformen von oben wie weiland der des deutschen Reichskanzlers Otto Bismarck. Der hatte mit seinen Sozialgesetzen im ausgehenden 19. Jahrhundert einer sozialen Revolution in Deutschland den Wind aus den Segeln genommen.

Im Rahmen der Kritik am neoliberalen Kapitalismus wurde auch der längst in Vergessenheit geratene Karl Polanyi wieder ausgegraben. Der am 1886 in Wien geborene und 1964 in Kanada gestorbene Wirtschaftswissenschaftler wurde durch seine vom liberalen Mainstream abweichende Lehre bekannt, die zwar den Kapitalismus kompromißlos verteidigt, aber zugleich davor warnt, daß vollkommen freie Märkte zum politischen und sozialen Kollaps führen. Angesichts von vier Jahren Krise, die weltweit 200 Million Menschen in die Arbeitslosigkeit gestürzt hat, und wachsender sozialer Proteste und Unruhen auch in den westlichen Staaten hat Polanyi gute Aussichten, zur neuen Lichtgestalt des akademischen Apologeten des Kapitalismus zu werden.

Das Ausmaß der Beunruhigung der »Eliten« über die hochgefährliche Mischung aus wachsender Arbeitslosigkeit, Einkommensungleichheit und Hoffnungslosigkeit wurde auch in einer Meinungsumfrage unter den Teilnehmern der Kapitalismus-Debatte in Davos deutlich: 40 Prozent meinten, das aktuelle System entspreche nicht den Erfordernissen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Nur 20 Prozent waren damit einverstanden, der Rest konnte sich nicht entscheiden. In der anschließenden Debatte zwischen Gewerkschaftsvertretern und Topmanagern zeigte sich jedoch, daß letztere weitreichende Reformen in Richtung Sozialstaat ablehnen. Es mache »keinen Sinn, einer Welt, die längst verschwunden ist, nachzuweinen«, war der Tenor.

Verkennt der Marxismus-Leninismus die Natur des Menschen?

Eine Frage, die ich mir schon lange stelle. Der Kranich05 hat sich darüber Gedanken gemacht.

Gelesen habe ich Ute Osterkamp.  Sie hat einen Beitrag verfasst mit dem Titel: „Hat der Marxismus die Natur des Menschen verkannt oder: Sind die Menschen für den Sozialismus nicht geschaffen?“

Oft sind es nicht die beinharten Antikommunisten, die so fragen, sondern Gutwillige, Sympathisanten des Realsozialismus, Leute, die der DDR humanistische, idealische  Bemühungen zu gute halten, die aber leider an der egoistischen Natur des Menschen gescheitert seien und schließlich zum Zusammenbruch einer Erziehungsdiktatur führen mußten.

Osterkamp hält an der Auffassung des Marxismus fest, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen sei und bekräftigt, daß die verschiedenen biologistischen Deutungen  der Persönlichkeit regelmäßig darauf hinauslaufen, die gegebenen, das Individuum begrenzenden  sozialen Verhältnisse, vor allem die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse, als naturgegeben und  unveränderlich zu betrachten.

Resümierend sagt sie: „Da die Bevölkerung bei der Entwicklung des Sozialismus, wie Marx und Engels sie verstehen, in immer höherem Maße ihre Lebensbedingungen den eigenen Bedürfnissen gemäß verändern kann, ist die Frage danach, wieweit sie von solchen selbst geschaffenen und der eigenen Verfügung unterliegenden sozialistischen Verhältnissen überfordert wird, von vornherein widersinnig.“ Es gehe also darum, „die Fremdbestimmtheit individueller Existenz in ihren Ursachen und Auswirkungen sowie die vielfältigen Mechanismen ihrer Verschleierung so präzis wie möglich auf den Begriff zu bringen, um sie umfassend und gemeinsam angehen zu können, auf diese Weise die Bedingungen wirklicher menschlicher Existenz zu schaffen.“

Sosehr ich diese Verteidigung marxistischer Grundpositionen teile, sollte doch das historische Scheitern des Realsozialismus die Frage auslösen, ob es in der marxistischen Auffassung vom Menschen Lücken gibt und es notwendig ist, nach konkreteren Antworten zu suchen. Fraglos war das reale „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR“ gegenüber allem, was es vorher in Deutschland gab, tiefgreifend verändert worden und fraglos in einer Weise, die den Grundorientierungen des Wissenschaftlichen Sozialismus entsprach. Doch ebenso unzweifelhaft haben Massen dieser Menschen im Sozialismus (jeder von ihnen wesentlich ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“) dieses System am Ende nicht mehr mitgetragen und schließlich aufgegeben.

Der Teufel scheint in der Struktur und Wirkungsweise dieses „Ensembles“ zu stecken. Im Marxismus-Leninismus, so wie er historisch entstanden ist, nimmt die Theorie von den Klassen und dem Klassenkampf  eine überragende Stellung ein. Man kann diese Theorie buchstäblich als die Achse der materialistischen Geschichtsauffassung bezeichnen. Ich nehme an, daß es sich hierbei um eine bleibende und fundamental bleibende Erkenntnis handelt. Jedoch nicht um eine Erkenntnis, die das Gesellschaftsganze ausreichend differenziert erfasst und schon gar nicht um die ausreichende theoretische Grundlage einer materialistischen Theorie des Menschen. Die philosophische Theorie des menschlichen Individuums (die so sehr verpönte marxistische Anthropologie) kann nicht auf die marxistische Klassenlehre verzichten. Aber sie ist andererseits mit dieser nicht bereits gegeben. Sie ist mit Historischem Materialismus, Politischer Ökonomie oder der Lehre von der Revolution und vom Sozialismus nicht gegeben. Sie  muß erarbeitet werden. Ihr Nichtvorhandensein halte ich für einen der Gründe sowohl des Scheiterns des Realsozialismus als auch der anhaltenden strategischen Defensive des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.

Als grundsätzliche theoretische Einsichten dieser marxistischen Anthropologie betrachte ich die Anerkennung der Wertungs- und Entscheidungsfreiheit jedes Menschen als Ausdruck seiner Willensfreiheit/Willkür. Das menschliche Individuum, bestimmt durch objektive Verhältnisse, ist dennoch zu ALLEM fähig.

Seine Willensfreiheit betätigt der Mensch in einem täglichen Strom von Wertungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen, denen kontinuierliche (vielfach unbewusste) Bilanzierungen seines individuellen Lebens zu Grunde liegen.

In diese Bilanzierungen geht das strukturierte „Ensemble seiner bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse“ ein UND das Bewusstsein seiner natürlichen Begrenztheit. Diese Begrenztheit, sosehr sie einen gesellschaftlichen Inhalt hat, bleibt eine natürliche Konstante (bzw. Variable).

Der Mensch hat einen Doppelgesicht von Natürlichkeit und Gesellschaftlichkeit. Er selbst stellt einen „prozessierenden Widerspruch“ dar, der gleichermaßen außerordentliche Kulturleistungen wie „widernatürliche Exzesse“ hervorbringt. Sich selbst theoretisch zu begreifen und im Sinne der Lebenssteigerung praktisch zu bewältigen, stellt seine höchste und wohl zugleich unabweisbar-endgültige Herausforderung dar.


Quelle: Opablog